Sind Anti­oxi­dan­ti­en schädlich?

Anmer­kun­gen zur JAMA Metaanalyse

In die­se Aus­ga­be wer­fen wir einen Blick auf den umstrit­te­nen JAMA-Arti­kel und klä­ren die ent­stan­de­ne Unsi­cher­heit der Ver­brau­cher in Bezug auf die Nut­zung von Vit­ami­nen und Mikro­nähr­stof­fen auf.

Autor: Die­ter Henrichs

Ende Febru­ar 2007 erschien in der Wochen­zeit­schrift JAMA der Ame­ri­ka­ni­schen Medi­zi­ni­schen Gesell­schaft ein Bericht über die Aus­wer­tung von 68 Stu­di­en zur Wir­kung der popu­lä­ren Anti­oxi­dan­ti­en Vit­amin A, C, E, ß‑Carotin (Pro­vit­amin A) und des Spu­ren­ele­ments Selen. Die Autoren kamen zu dem uner­war­te­ten Ergeb­nis, dass die viel ver­wen­de­ten Vit­ami­ne A, E und ß‑Carotin das Sterb­lich­keits­ri­si­ko nicht nur nicht ver­min­dert, son­dern um 16 % erhöht. Vit­amin C beein­flus­se die­ses Risi­ko weder posi­tiv noch nega­tiv. Ein­zig das Spu­ren­ele­ment Selen schnei­det gut ab. Die Aus­wer­tung ergab, dass Selen das Mor­ta­li­täts­ri­si­ko um 9 % senkte.

Wirk­lich eine Vitamin-Lüge?

Der JAMA-Arti­kel erzeug­te einen mäch­ti­gen Wir­bel in den ame­ri­ka­ni­schen – und spä­ter auch euro­päi­schen – Medi­en. „Anti­oxi­dan­ti­en hel­fen nicht, län­ger zu leben“, „Anti­oxi­dan­ti­en kön­nen gefähr­lich sein“, „Anti­oxi­dan­ti­en ver­hin­dern kei­ne Krank­heit und erhö­hen das Sterb­lich­keits­ri­si­ko“ – das sind typi­sche Bei­spie­le für alar­mie­ren­de Schlag­zei­len, die sich auf den aktu­el­len JAMA-Bericht bezo­gen. Bei uns schoß die „Süd­deut­sche Zei­tung“ den Vogel ab. Sie fass­te ihre Erkennt­nis­se über den Nut­zen von Vit­ami­nen und ande­ren Mikro­nähr­stof­fen im Heft „Wis­sen“ unter der ein­fa­chen Über­schrift „Die Vit­amin-Lüge“ zusammen.

Ver­ständ­lich, dass vie­le Ver­brau­cher über­aus ver­un­si­chert reagier­ten. War denn alles falsch, was sie – viel­leicht über Jah­re – getan hat­ten, um sich mit Vital­stof­fen zu ver­sor­gen? Haben sie am Ende damit ihrer Gesund­heit nicht genützt, son­dern gescha­det? Kann man den Aus­sa­gen der Vit­am­in­for­scher, von Linus Pau­ling bis zu Den­ham Har­mann, dem „Pino­nier der Anti­oxi­dan­ti­en“, über­haupt noch trau­en? Wenigs­tens sind die­se bei­den sehr alt geworden.

Linus Pau­ling, der zwei­fa­che Nobel­preis­trä­ger, einer der her­aus­ra­gends­ten wis­sen­schaft­li­chen Den­ker des 20. Jahr­hun­derts, wur­de 93 Jah­re alt. Er nahm täg­lich Anti­oxi­dan­ti­en in gro­ßen Men­gen zu sich, dar­un­ter 10 – 18 Gramm Vit­amin C. Und Pro­fes­sor Den­ham, des­sen wis­sen­schaft­li­cher Ruhm auf sei­ner Erfor­schung der frei­en Radi­ka­le und ihrem Ein­fluss auf Alte­rungs­pro­zes­se beruht, mit sei­nen jetzt 91 Jah­ren nach wie vor kern­ge­sund und leis­tungs­fä­hig, nimmt täg­lich Anti­oxi­dan­ti­en, Vit­amin C, Vit­amin E und Selen. Die lang­jäh­ri­gen per­sön­li­chen Erfah­run­gen mit Anti­oxi­dan­ti­en stär­ken das Ver­trau­en in die Glaub­wür­dig­keit der wis­sen­schaft­li­chen Äuße­run­gen die­ser For­scher zum The­ma, wenn sie auch kei­nen eige­nen wis­sen­schaft­li­chen Beweis­wert haben mögen.

Aber wie ist es um die Wis­sen­schaft­lich­keit der JAMA-Ver­öf­fent­li­chung bestellt?

Die Urtei­le von Fach­kol­le­gen waren ver­nich­tend. Beson­ders kri­ti­siert wur­de der Auf­bau (das „Design“) der Meta­ana­ly­se und die Aus­wahl der für die Aus­wer­tung her­an­ge­zo­ge­nen Stu­di­en. Was ist damit gemeint?

Eine Meta­ana­ly­se nimmt vor­han­de­ne wis­sen­schaft­li­che Unter­su­chun­gen zu ihrem The­ma und ver­gleicht sie. Dadurch wer­den neue sta­tis­ti­sche Daten gewon­nen, die für die wei­te­re For­schung von Bedeu­tung sein können.

Hier ging es um die Eva­lu­ie­rung des gesund­heit­li­chen Nut­zens bestimm­ter Anti­oxi­dan­ti­en. Die Ver­fas­ser gin­gen nun so vor, dass sie aus einem vor­han­de­nen Pool von 815 Stu­di­en, die Aus­sa­gen über die anti­oxi­da­tive Wir­kung der Vit­ami­ne A, E, C, Beta-Caro­tin und des Spu­ren­ele­ments Selen mach­ten, (ledig­lich) 68 aus­wähl­ten für die sta­tis­ti­sche Aus­wer­tung, die dann die Grund­la­ge für die Aus­sa­gen ihrer Meta­ana­ly­se bil­de­ten. Das heißt, 91 % geeig­ne­ter Ani­oxi­dan­ti­en-Stu­di­en wur­den von den Autoren von der sta­tis­ti­schen Ana­ly­se ausgeschlossen.

Dage­gen ver­wen­de­ten die Ver­fas­ser ihre eige­ne bereits 2004 ver­öf­fent­lich­te, stark kri­ti­sier­te Unter­su­chung zur Anwen­dung von hoch­do­sier­tem Vit­amin E und auch die mit erheb­li­chen metho­di­schen Män­geln behaf­te­ten soge­nann­ten „Rau­cher­stu­di­en“ zu Beta-Caro­tin und Vit­amin A. Die­se – zwei­fel­haf­ten – Stu­di­en, deren Aus­sa­ge­wert äußerst strit­tig ist, tra­gen nun zu den nega­ti­ven Ergeb­nis­sen der aktu­el­len JAMA-Meta­ana­ly­se bei.

Auch bei der Daten­ver­ar­bei­tung der ver­wen­de­ten Stu­di­en unter­lie­fen den Autoren schwe­re Feh­ler. Nur ein Bei­spiel: Die sta­tis­ti­sche Zusam­men­fas­sung der JAMA-Ana­ly­se führt fälsch­li­cher­wei­se 30 Tote aus einer Stu­die aus dem Jah­re 2001 auf, wodurch das Gesamt­ergeb­nis nega­tiv ver­fälscht wird.

Die Ori­gi­nal­stu­die weist dage­gen nur 2 Todes­fäl­le auf: einen Todes­fall in der Pla­ce­bo­grup­pe, einen Todes­fall in der Grup­pe, die Anti­oxi­dan­ti­en in Ver­bin­dung mit Medi­ka­men­ten nahm. Die Grup­pe, die aus­schließ­lich Anti­oxi­dan­ti­en nahm, wies kei­nen Todes­fall auf.

Natür­lich gibt es Stu­di­en mit nega­ti­ven Ergeb­nis­sen. Sie sind genau so wich­tig wie posi­ti­ve Stu­di­en, denn dadurch wird der wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­fort­schritt geför­dert. So ergab, die berühm­te Rau­cher­stu­die, deren (nega­ti­ve) Ergeb­nis­se auch in die JAMA-Ana­ly­se ein­ge­flos­sen sind, kei­nen anti­ox­da­tiv­en gesund­heit­li­chen Vor­teil in der Anwen­dung von Beta-Caro­tin. Das war gänz­lich uner­war­tet , aber es führ­te dazu, dass man den Grund für den Miss­erfolg such­te. Er lag dar­in, dass man den Teil­neh­mern der Stu­die syn­the­ti­sches Beta-Caro­tin in iso­lier­ter Form ver­ab­reicht hat­te – und die­ses hat­te kei­ne oder nur gerin­ge anti­oxi­da­tive Wir­kun­gen. Seit man das weiß, ent­hal­ten Anti­oxi­dan­ti­en­prä­pa­ra­te gemisch­te Caro­ti­no­ide aus natür­li­chen Quel­len – und die wirken.

Ähn­li­ches gilt für Vit­amin E, wo die bes­ten anti­oxi­da­tiv­en Effek­te mit natür­li­chen, gemisch­ten Toco­phe­ro­len erzielt werden.

Eben­so wie die genaue Zusam­men­stel­lung lie­ße sich die jewei­li­ge Dosie­rung als Fak­tor anfüh­ren, der das Ergeb­nis ent­schei­dend prägt. Es macht ja einen Unter­schied, ob 1.333 oder 200.000 i. E. Vit­amin A ver­ab­reicht werden!

In einer Meta­ana­ly­se, also einem Ver­gleich, kön­nen nur die für die Ana­ly­se ver­wen­de­ten nega­ti­ven Ein­zel­stu­di­en zu einem nega­ti­ven Gesamt­ergeb­nis führen.

Wenn nun, wie hier gesche­hen, Ein­zel­stu­di­en aus der „Stein­zeit“ der Nähr­stoff­for­schung, also z. B. aus den 60er oder 70er Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts ver­wen­det wer­den, dann ist eine sol­che Daten­grund­la­ge aus heu­ti­ger Sicht in der Pra­xis wert­los, weil sich so wich­ti­ge Fak­to­ren wie die Zusam­men­set­zung oder die Dosie­rung der unter­such­ten Sub­stan­zen seit­her grund­le­gend geän­dert haben.

Ange­sichts die­ser Mani­pu­la­tio­nen ver­wun­dert es nicht, dass der renom­mier­te Ernäh­rungs­for­scher und Epi­de­mio­lo­ge an der Har­vard School of Public Health, Prof. Meir Stamp­fer zu dem Urteil kam:

Die­se Stu­die för­dert unser Ver­ständ­nis nicht und könn­te leicht zu einer Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on der ver­wen­de­ten Daten führen.“

Eine wich­ti­ge Basis für die Aus­sa­ge­kraft von Meta­ana­ly­sen bil­det die Homo­ge­ni­tät der ver­wen­de­ten Daten. Man kann nicht Äpfel mit Bir­nen ver­glei­chen. Hier aber, so die Kri­tik der Fach­kol­le­gen, wur­den völ­lig unter­schied­li­che Stu­di­en mit unter­schied­li­chen Dosie­rungs­sche­ma­ta und völ­lig ver­schie­de­nen Indi­ka­tio­nen ver­gli­chen. Die Daten­grund­la­ge der JAMA-Ana­ly­se weist Diver­gen­zen auf, die die Resul­ta­te ver­fäl­schen. So wur­de bei­spiels­wei­se eine Ein­zel­stu­die über Vit­amin A in die Ana­ly­se genom­men, in der den teil­neh­men­den Pati­en­ten täg­lich über 200.000 i. E. Vit­amin A ver­ab­reicht wur­den. Ein wei­te­res Bei­spiel: Eine ver­wen­de­te Vit­amin-E-Stu­die wur­de an ster­ben­den Herz-Pati­en­ten durch­ge­führt, deren Lebens­er­war­tung noch zwei Wochen betrug (unab­hän­gig von dem, was sie einnahmen).

Das Dosie­rungs­spek­trum in den für die Ana­ly­se ver­wen­de­ten Stu­di­en ist extrem breit gefä­chert, wie aus der fol­gen­den Lis­te ersicht­lich ist:
Bezeich­nungDosie­rungs­spek­trum
Vit­amin A1.333 – 200.000 i.E.
Vit­amin E10 – 5.000 i.E.
Vit­amin C60 – 2.000 mg
Selen20 – 200 mcg
Prof. Jef­frey Blum­berg, Direk­tor des Anti­oxi­dant For­schungs­la­bors an der Tufts Uni­ver­si­tät in Bos­ton, fasst sei­ne Kri­tik an der Aus­wahl und Vor­ge­hens­wei­se der Autoren so zusammen:
Eine der Haupt­vor­aus­set­zun­gen bei einer Meta­ana­ly­se besteht dar­in, dass die ver­wen­de­ten Stu­di­en ver­gleich­bar sein müs­sen. Hier (in der JAMA-Ana­ly­se, Red.), betrach­te­ten die Autoren Vor­beu­gung, The­ra­pie, Senio­ren, jun­ge Leu­te, Rau­cher, Nicht­rau­cher. Nur dadurch, dass sie (die Autoren, Red.) ihre eige­nen Kri­te­ri­en anwen­de­ten von dem, was „gut“ und was „böse“ ist, konn­ten sie als Ergeb­nis einen Anstieg des Sterb­lich­keits­ri­si­kos zeigen.“

Die ver­öf­fent­lich­ten Ergeb­nis­se bestä­ti­gen also kaum mehr als die Vor­ein­ge­nom­men­heit der Verfasser.

Ähn­lich auch Prof. Balz Frei, Bio­che­mi­ker an der Ore­gon Sta­te Uni­ver­si­ty, der den gesund­heit­li­chen Nut­zen der Anti­oxi­dan­ti­en betont:

Dies ist eine feh­ler­haf­te Ana­ly­se … Die Gesamt­heit der For­schungs­er­geb­nis­se zeigt den gro­ßen gesund­heit­li­chen Nut­zen von Anti­oxi­dan­ti­en (aus der Nah­rung oder aus Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­teln), ein­ge­schlos­sen ein ver­rin­ger­tes Risi­ko für Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen, ver­schie­de­ne Arten von Krebs, Augen­er­kran­kun­gen, Erkran­kun­gen des Ner­ven­sys­tems … Anti­oxi­dan­ti­en sind ein Schlüs­sel zu einem leis­tungs­fä­hi­ge­ren Immun­sys­tem und der Abwehr von Infektionen.“

Hier­zu lies­sen sich leicht Tau­sen­de von Stu­di­en anfüh­ren, die nicht nur bele­gen, dass oxi­da­tiv­er Stress ein aus­lö­sen­der Fak­tor für eine gro­ße Anzahl von Erkran­kun­gen ist, son­dern auch die Rol­le der Anti­oxi­dan­ti­en bei der Ver­min­de­rung von oxi­da­tiv­en Schä­den bestätigen.

Die sta­tis­ti­sche Ana­ly­se ist ein Instru­ment, um Infor­ma­tio­nen zu inter­pre­tie­ren und zu bewer­ten. Die Qua­li­tät der so gewon­ne­nen Ergeb­nis­se hängt in star­kem Maße von den Unter­schei­dungs­merk­ma­len ab, nach denen die für die Ana­ly­se ver­wen­de­ten Daten beur­teilt wur­den. Die JAMA-Ana­ly­se ent­spricht den wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards nicht. Sie ist vor­ein­ge­nom­men und mit Makeln behaf­tet. Lei­der ist zu befürch­ten, dass die größ­te öffent­li­che Wir­kung dar­in bestehen wird, dass sie tra­gi­scher­wei­se das Leben vie­ler Men­schen ver­kür­zen könn­te. Das sind die Men­schen, die einen lebens­ver­län­gern­den, sogar lebens­ret­ten­den Nut­zen aus anti­oxi­da­tiv­en Vital­stoff-Prä­pa­ra­ten zie­hen könn­ten, die­se natür­li­chen Bestand­tei­le unse­rer Nah­rung aber nun ver­mei­den aus Unsi­cher­heit und unbe­rech­tig­ten Ängs­ten, die die­ser ein­sei­tig ver­zerr­te sta­tis­ti­sche Bericht geweckt hat.

Kategorien: Studien Nahrungsergänzungsmittel.